Gesellschaft Deutscher Chemiker

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„Das stoffliche Problem ist ernst“

Nachrichten aus der Chemie, Juli 2024, S. 8-11, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Henning Hopf ist Organiker, GDCh-Ehrenmitglied und -Altpräsident und seit Kurzem auch Primo-Levi-Preisträger. Wie wenige andere Wissenschaftler hat er stets einen Blick auf das große Ganze und die gesellschaftliche Aufgabe der Chemie. Ein guter Grund für die Nachrichten, ihn für dieses „Schlaglichtheft 75“ zu befragen, was war, was ist und was in Zukunft sein soll.

Nachrichten aus der Chemie: Herzlichen Glückwunsch zum Primo-Levi-Preis! Wann kamen Sie eigentlich zum ersten Mal mit Primo Levi in Berührung?

Henning Hopf: Das war im Jahr 1963. Ich hatte in Göttingen mein Vordiplom gemacht und bin dann in die USA gegangen, um an der University of Wisconsin weiter zu studieren. In deren Bookstore lag „Ist das ein Mensch?“, Primo Levis erstes Buch, in dem er seine Erlebnisse und sein Leiden in Auschwitz schildert. Das habe ich mit großer Erschütterung gelesen. Es beschreibt eindringlich, wie er und seine Mithäftlinge zuerst ihre Freiheit verlieren und dann ihre Individualität und ihre physische Existenz zerstört wird. Er hat Glück und ist einer der sehr wenigen, die überleben. Ich hätte Primo Levi gerne kennengelernt.

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Foto: Andreas Schmitter

Er starb ja 1987 durch einen Unfall, vielleicht war es ein Suizid, das ist bis heute unklar.

Ja, das wäre kein Einzelfall. Es gibt leider viele Beispiele von Menschen, die die Konzentrationslager überlebt haben, sich aber später das Leben genommen haben. Menschen, die Primo Levi gekannt haben, berichten, dass er ein beeindruckender Mensch gewesen sei, aber auch ein trauriger. Ich habe dann auch seine späteren Bücher gerne gelesen.

Welche sind Ihnen besonders im Gedächtnis?

„Das periodische System“ ist bis heute, was die Popularisierung der Chemie anbelangt, ein sehr wertvoller Text. Es war damals ein Bestseller und es ist für Chemiker und Nichtchemiker unbedingt empfehlenswert. Der Roman „Der Ringschlüssel“ ist eines meiner Lieblingsbücher von Primo Levi. Neben der Chemie und der Familie ist das auch mein großes Hobby: schöngeistige Literatur. Ich lese also sehr viel, eigentlich pausenlos.

Hat es Sie nicht gereizt, auch selbst etwas zu schreiben, was über Lehrbücher hinausgeht?

Ich bin seit einiger Zeit an der Biografie-Serie „Lives in Chemistry – Lebenswerke in der Chemie“ im Beirat beteiligt. Da hatten mich die Kollegen gefragt, ob ich nicht eine Autobiografie schreiben will. Ich habe angefangen, es dann aber wegen meiner Krankheit nicht fortgesetzt. Tatsächlich arbeite ich aber noch an einem Kohlenwasserstoffbuch, zusammen mit Michael Sherburn, einem Kollegen aus Australien. Beim Schöngeistigen bleibe ich also bis auf weiteres Rezipient.

Die Würdigung für Ihren Primo-Levi-Preis enthält eine bemerkenswerte Formulierung. Sie erhielten den Preis unter anderem für Ihre „Verdienste um eine bessere Chemie“. Was bedeutet das für Sie: eine bessere Chemie?

Es gibt nur zwei wichtige Konzepte in der Chemie: Das eine ist die Energie und das andere ist das Stoffliche, die Materie. Natürlich sind beide miteinander verknüpft. Die Chemie ist für mich die Stoffwissenschaft per se. Erstaunlich ist meines Erachtens, dass die chemische Community dies nicht in seiner Ganzheit erfasst und berücksichtigt. Die Chemie hat sich – und diesen Vorwurf müssen wir uns machen – nicht genügend Gedanken gemacht.

Inwiefern?

Die Stoffe verschwinden nicht, sie bleiben da oder sie bleiben in umgewandelter Form da. Das Benzin ist weg und das Gas ist verbrannt – und das CO2 sieht man nicht. Beim Plastik ist es ähnlich – auch das bleibt ja irgendwo. Es wird immer kleiner und man kann nur hoffen, dass die Partikel nicht so klein werden, dass sie in den eigenen Organismus eingebaut werden. Im besten Fall könnten Bakterien Plastik abbauen oder als Ressource nutzen. An diesem Punkt beginnt das, was ich eine bessere Chemie nenne. Das Energieproblem ist nicht unser wichtigstes Problem; es ist letztlich lösbar, weil wir die Sonne haben. Aber das stoffliche Problem ist ernst: Alles, was uns umgibt, stammt aus unseren eigenen, aus den Ressourcen der Erde. Dass man eines Tages Materie importieren kann, daran glaube ich nicht.

Und Sie vermissen, dass das Stoffliche in seiner ganzen Konsequenz nicht genügend bedacht wird?

Nicht genügend – ganz genau! Viele Leute haben sich Gedanken darüber gemacht, in zyklischen Prozessen Stoffe zurückzugewinnen. Aber es gibt keinen chemischen Prozess mit 100 Prozent Ausbeute, es fällt also immer irgendetwas an oder etwas, was irgendwie anders gelagert oder untergebracht werden soll. Wie schwierig das ist, sieht man am ungelösten Entsorgungsproblem in der Kernenergietechnik. Die zweite stoffliche Frage: Reichen die Ressourcen? Was passiert, wenn alle Menschen weltweit den westlichen Lebensstandard anstreben? Das ist ihr gutes Recht – aber gleichzeitig ein furchtbarer Gedanke. Das wird nur funktionieren, wenn wir in einen Zirkularprozess eintreten, in dem nichts wegkommt. Darüber müssen Chemiker viel mehr nachdenken, auch die GDCh. Wo bleibt die Fachgruppe „Zyklische Chemie“? Höchste Zeit sie einzurichten.

Sie selbst sind schon mal vorangegangen und haben mit drei Kollegen im Jahr 2014 „C4S, Chemists for Sustainability“ gegründet.

Ja, meine „Schreibgruppe“, wie ich sie nenne: Alain Krief aus Namur, Goverdhan Mehta aus Indien, Stephen Matlin aus London vom University College. Wo steht die Chemie, in welche Richtung sollte sie sich entwickeln, und wie sollte man mit ethischen Fragen umgehen? Wir haben mittlerweile einige Aufsätze zu Nachhaltigkeitsthemen in Zeitschriften wie der Angewandten Chemie oder Nature veröffentlicht.

Auch in den Nachrichten aus der Chemie.

Das Schöne ist, dass wir unsere Gruppe erweitern konnten; wir kooptieren mittlerweile weiter Mitglieder wie Vivian Yam von der Hong Kong University.

Der Primo-Levi-Preis soll ja genau solches Engagement auszeichnen: Chemiker und Chemikerinnen, die sich über ihr Fach hinaus in besonderer Weise für humanitäre Ziele einsetzen.

Ja, der Preis unterscheidet sich deutlich von anderen wissenschaftlichen Preisen. Er steckt eine viel größeren gesellschaftlichen Rahmen ab.

Bereitet die akademische Wirklichkeit zu wenig darauf vor, sich für gesellschaftliche Themen einzusetzen?

Es ist ein Zeitproblem. Die wissenschaftliche Arbeit steht eindeutig an erster Stelle, man geht in der Arbeit auf. Gesellschaftliches Engagement hat eine politische Ebene und politische Tätigkeit bedeutet Kompromiss, bedeutet: auf andere Leute einzugehen. Die Wissenschaft ist starrer und will Eindeutigkeit – und merkt vielleicht mehr und mehr, dass es gar keine immer gültigen Antworten auf jedes Problem gibt.

Aber Sie wollten immer Wissenschaftler sein?

Ich glaube, dass der Lebensweg in vielerlei Hinsicht stark von Zufällen geprägt wird. Ich habe es nicht durchgeplant, in die Kohlenwasserstoffchemie zu gehen. Es gab vielfältige Einflüsse, Mentoren, ich lernte bestimmte Dinge kennen, las hier und dort ein Lehrbuch und fragte mich manchmal: Wieso ist das eigentlich so – da möchte ich doch gerne mal in die Details reingucken. Die Kohlenwasserstoffchemie hatte in den 1960er-, 1970er-Jahren eine Hochphase, sie war häufig eine Chemie polyzyklischer Verbindungen und hat dann den Gipfel erreicht mit C60. Aber C60 ist kein Kohlenwasserstoff, sondern ein Kohlenstoff. Ästhetische Gründe spielten für mich auch eine Rolle. Es sind einfach schöne Moleküle, die man da bauen kann.

Als Anorganiker hätten Sie doch bestimmt andere schöne Sachen entdeckt?

Im Rückblick ist es erstaunlich, woran es manchmal hängt, welchen Weg man einschlägt. Ich ging damals in Göttingen auch deshalb in die Organik, weil am Institut von Wolfgang Lüttke ein menschlicher Tonfall herrschte. Man ging freundlich miteinander um. Das war nicht unbedingt typisch für die Zeit – die Autoritätsgläubigkeit war viel stärker ausgeprägt als heute, und viele Professoren hatten das Selbstverständnis, in ihren Instituten die Größten zu sein und führten sich dementsprechend auf.

Ist das nur ein Thema der Vergangenheit? Der Wissenschaftsbetrieb mit seinen vielschichtigen und häufig asymmetrischen Netzwerk- und Mentorenverhältnissen macht es ja immer noch schwachen Charakteren leicht, Abhängigkeitsverhältnisse zu missbrauchen, siehe Me-Too-Diskussion.

Das verfolge ich insofern, als es natürlich etwas zu tun hat mit der gesellschaftlich noch wichtigeren Frage: nämlich des Patriarchats. Wenn ich zurückdenke, wie die Rollenverteilung war, als ich groß geworden bin: Selbstverständlich hat der Vater gearbeitet, also das Geld verdient und den Lebensunterhalt der Familie gesichert – aber die gesamte andere Arbeit vom Einkaufen über das Kochen, bis zum Reparieren, Knöpfe annähen und so weiter hat alles die Frau gemacht. Das zog sich durch die gesamte Gesellschaft: In meinem gesamten Studium hatte ich eine einzige Kommilitonin, die im gleichen Praktikumssaal arbeitete. Aber es gibt keine rationale Erklärung, dass diese Geschlechterverteilung so sein musste – außer eben durch angestammte Machtpositionen, welche die Männer hatten.

Ein eigenartiger Zufall: 1963 – das Jahr, in dem Sie erstmals ein Buch von Primo Levi lasen – war auch das Jahr, in dem Sie in die GDCh eingetreten sind?

Ja, kurz bevor ich in die USA gegangen bin. Damals musste man zu zwei Hochschullehrern gehen und die mussten für einen bürgen. Das fand ich damals schon recht beeindruckend, es betonte den Zunftgedanken. Es war kein Ritterschlag, aber man war immerhin in einer respektablen Gesellschaft, eben der Gesellschaft Deutscher Chemiker.

Und dort waren Sie dann immer treues Mitglied?

Ich habe das Geschehen in der GDCh immer sehr eng verfolgt, auch dadurch, dass ich später im Vorstand und Präsident war. Wenn ich für mich selbst Meilensteine in der GDCh-Entwicklung setzen müsste, dann würde ich sagen: Jungchemikerforum, die jungen Leute wurden gehört. Der AK Chancengleichheit in der Chemie war vor 25 Jahren auch etwas völlig Neues. Und vielleicht am wichtigsten: die Rolle der GDCh bei der Etablierung der europäischen Zeitschriften. Ich hatte das Glück, damals mit der GDCh zusammen eine wichtige Rolle spielen zu dürfen. Wir haben uns mit den Franzosen getroffen, mit den Polen, mit den Holländern, den Italienern und haben Überzeugungsarbeit geleistet, die einzelnen nationalen Journale zugunsten einer europäischen Zeitschrift aufzugeben. Die einzigen, die wir nicht überzeugen konnten, waren die Skandinavier, die Acta Chemica Scandinavica ging zur Royal Society rüber.

Es gab erheblichen Widerstand, die nationalen Journals aufzugeben.

Ja, insbesondere die Aufgabe der nationalen Sprache war ein Politikum. Ich habe Briefe mit teilweise völlig abstrusen Inhalten bekommen. Einer schrieb mir, mit der Einführung des Englischen zerstörten wir die Sprache Goethes. Was soll man dazu sagen? Was wir aber gut ausräumen konnten, war der Verdacht, dass die GDCh mit ihrem Verlag VCH sich die anderen Journale einverleiben wollte. Das war nicht so, der ganze Prozess verlief gleichberechtigt und war keinesfalls von uns Deutschen dominiert. Die Wahrheit war in den 1990ern aber: Die zersplitterten europäischen Zeitschriften drohten, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, die Abonnentenzahlen sanken dramatisch und Autoren schickten ihre Manuskripte eben nicht zu den Chemischen Berichten oder zu anderen nationalen europäischen Zeitschriften, sondern an JACS.

Auch in der GDCh haben Sie in den 2000er-Jahren Kontroversen aushalten müssen, etwa bei der Aufarbeitung der Geschichte der GDCh und ihrer Preisnamensgeber.

Da gab es erhebliche Widerstände, und es sind auch Mitglieder ausgetreten, die ich persönlich geschätzt habe. Besonders entzündete sich die Debatte bei der Kuhn-Medaille. Wir hatten im GDCh-Vorstand entschieden, diesen Preis nicht mehr zu verleihen. Richard Kuhn war im „Dritten Reich“ ein Opportunist gewesen. Zur erzwungenen Ablehnung des Nobelpreises 1938 etwa schrieb er: Des Führers Wille ist unser Glaube. Das hat er freiwillig geschrieben; Butenandt hat das ein Jahr später nicht gemacht. Das schmälert nicht Kuhns wissenschaftliche Leistungen, aber die GDCh sollte keinen hochrangigen Preis mit seinem Namen verleihen.

Unter Ihrer Präsidentschaft begann die GDCh, sich mit den Verstrickungen der GDCh-Vorläuferorganisationen in das NS-Regime auseinanderzusetzen.

Diese Aufarbeitung war notwendig. Wir haben vor 20 Jahren auch über Alfred Stock geredet, nach dem die GDCh ebenfalls einen Preis benannt hatte. Aus Stocks Korrespondenz lässt sich belegen, dass er ein Oberrassist war, als Preisnamensgeber war er eigentlich noch viel weniger geeignet als der „Nur-Opportunist“ Kuhn. Durch die erheblichen Widerstände und den vielen Ärger hat es aber nicht geklappt, auch diesen Preis auszusetzen. Erst seit vorletztem Jahr trägt der GDCh-Anorganik-Preis nun einen neuen Namen.

Bei all dem Ärger: Hatten Sie nie einen Moment, in dem Sie gedacht haben, da draußen gibt es doch so viele schöne Kohlenwasserstoffe zu erforschen, lasst mich doch in Ruhe mit eurem GDCh-Laden?

Nein, überhaupt nicht. Die GDCh war mir dafür zu wichtig. Man kann sich ja fragen: Braucht es sowas wie eine nationale Chemie-Community überhaupt? Meine Antwort ist ein klares Ja. Selbstverständlich sind internationale Kooperation und Austausch wichtig, und das haben wir ja auch, etwa mit den CS3-Meetings. Aber die engste Kommunikation findet mit den Leuten statt, die mir am nächsten sind, und das sind die aus dem Land, in dem ich lebe und dessen Strukturen ich kenne. Über meine Kollegen will ich gerne etwas erfahren und deshalb zählen übrigens die Nachrichten aus der Chemie, die Blauen Blätter, nach wie vor zu meiner bevorzugten Lektüre.

Was wünschen Sie der GDCh?

Die GDCh soll neugierig bleiben, kritisch und selbstkritisch. Wir sollten Aufklärungsarbeit im besten Sinne leisten. Es geht nicht um Klatsch und Tratsch, sondern darum, dass man was Vernünftiges macht. Der Ort dafür sind die Fachgruppen und es ist wichtig, dass sich stetig neue Fachgruppen bilden. Die GDCh war Neuem gegenüber immer aufgeschlossen, das war früher schon so, etwa beim AK Chancengleichheit vor 25 Jahren. Das sich stetige Ändern ist eine gute Sache, da kann man nur sagen: Herzlichen Glückwunsch! Für die Vergangenheit ohnehin, aber auch für die Zukunft. W

Zur Person: Henning Hopf

Henning Hopf (Jahrgang 1940) studierte Chemie an der Universität Göttingen und an der University of Wisconsin, Madison. Nach der Promotion in den USA kehrte er zur Habilitation nach Deutschland zurück, zunächst an die Universität Marburg, danach an die Universität Karlsruhe. Nach einer Professur an der Universität Würzburg erhielt Hopf 1978 einen Ruf an die Technische Universität Braunschweig, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 lehrte. Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen zählt etwa die Adolf-von-Baeyer-Denkmünze der GDCh im Jahr 1996.https://media.graphassets.com/AuDi37pPR9SiDkv7uA4ANachrichten-Chefredakteur Christian Remenyi besuchte Henning Hopf an seiner wissenschaftlichen Wirkungsstätte in Braunschweig, „meinem Museum“ wie Hopf ironisch meinte.

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